Alles wirkliche Leben...
- annainisrael
- 22. Dez. 2015
- 4 Min. Lesezeit

…ist Begegnung!
Martin Buber äußerte diesen weisen Gedanken schon vor über einem halben Jahrhundert.
Beim Reisen begegnet man Menschen, Ländern, Kulturen, bekommt viele Einblicke in andere Lebensweisen und Weltanschauungen. Wenn man mit offenen Augen unterwegs ist, sich traut, Fragen zu stellen und ab und zu bereit ist, das Fremde auszuhalten, eröffnet sich einem die großartige Gelegenheit, dem Leben in seinem buntesten Kostüm zu begegnen.
Dieses kleine Land Israel zieht viele Menschen aus aller Welt an. Sie kommen her zum Reisen, auf der Suche nach ihren jüdischen Wurzeln, erhoffen sich eine spirituelle Erfahrungen, lassen sich her ganz nieder, kommen zum Studieren, um Arbeit zu finden, eine Auszeit zu nehmen…
Besonders deutlich auszumachende Einwanderergruppen stellen dabei zum Beispiel die Franzosen und Russen dar, besonders präsent in Netanya. In den 80er und 90er Jahren wurde ein ganzer „verlorener“ jüdischer Stamm aus Äthiopien eingeflogen. Darüber hinaus kann man die innerjüdischen Gruppierungen der Aschkenasim, Mizrachim und Sfaradim verschiedenen geografischen Regionen zuordnen. Die größte und damit politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich einflussreichste Gruppe in Israel bilden die Aschkenasim, deren Vorfahren vorwiegend in Mittel-, Nord-, und Osteuropa lebten. Die Mizrachim lassen sich dagegen ursprünglich arabischen und asiatischen Ländern zuordnen. Häufig werden die Sfaradim, welche vor ihrer Vertreibung in Spanien heimisch waren, dann in nordafrikanische Länder übersiedelten, zu den Mizrachim gezählt.
Besonders die Mizrachim, Araber und afrikanischstämmigen Juden haben unter anderem aufgrund der ähnlichen Hautfarbe genau wie die von vielen kritisch gesehen aus Afrika (Sudan, Eritrea) kommenden Flüchtlingen mit Diskriminierung zu kämpfen oder sind aufgrund der jüdisch geprägten Gesetzgebung und ihrem dem gegenüberstehenden muslimischen Glauben benachteiligt. Die Nicht-Regierungsorganisation Adalah hat es sich zur Aufgabe gesetzt, gegen diese Ungerechtigkeit anzugehen.
In Israel trifft man Übersiedler aus wohl allen nord- und südamerikanischen, europäischen, afrikanischen und etwas seltener asiatischen Ländern an, welche „Aliyah“ begangen haben, also israelische Staatsbürger wurden.
Der Sommer ist sehr heiß, der Winter eher mild. Das Klima und die erstaunliche Dichte an historischen, religiösen Stätten und beeindruckenden Landschaften zieht auch Reisende an.
Unter den Touristen stellen für mich persönlich die US-Amerikaner immer noch die speziellste aller Spezies dar. Viele von ihnen finden ihren Weg hierher und jene, die ich bisher näher kennen gelernt habe, weisen die amüsante Gemeinsamkeit auf, durch ihre Eigenarten wirklich unterhaltsam zu sein.
Besonderen Eindruck hat dabei Rachel aus New York hinterlassen, die bisher erste und wohl einzige Freiwillige auf dieser Ziegenfarm, welche gleichzeitig überzeugte Veganismus-Aktivistin ist.
Sie trug jeden Tag stolz ihr T-Shirt, auf dem mit netten Bildchen veranschaulicht ist, wofür sie täglich einsteht: Mitgefühl für die Tiere, Umweltschutz, Gewaltlosigkeit, Rettung des Regenwaldes, faire Behandlung von Arbeitern, Ressourcenschutz, Frieden und Liebe in der Welt. Auf ihrem Macbook klebte ebenfalls ein Weltretter-Sticker und ihre Kette sagte das Gleiche aus. Das Interessante daran zu beobachten war, wie sie diese Ideen in ihren Alltag integrierte.
Rachels erste Amtshandlung war, eine Gemüsepfanne für alle Freiwilligen zu kochen. Damit zerstörte sie leider unsere einzige Pfanne. Enthusiastisch ließ sie den halben Inhalt des guten Olivenöls anbrennen, sie mag es gerne kross. Anschließend flog unsere Hütte fast in die Luft, da sie die Gaszufuhr des Herds offen ließ und wir erst darauf aufmerksam wurden, als es anfing, etwas seltsam zu riechen. Beim Essen fand sie heraus, dass der Ziegen-Frischkäse wirklich nett zu der Gemüsekombination passt. Auch der Joghurt schmeckte ihr - besonders mit Erdbeermarmelade - ausgesprochen gut.
Dank Anats umsichtiger Art befand sich unter dem nächsten Einkauf viel Gemüse, Obst, sogar an Tofu und Seitan dachte sie. Diese Vorräte waren innerhalb von zwei Tagen aufgegessen, da Rachel an ihrem ersten Abend die Eingebung hatte, eine Rohvegan-Diät anzufangen. Ihr Körper schien nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen zu sein, hatte sie doch von morgens bis abends unglaublichen Hunger.
Und das, obwohl sie nur einen Tag hier arbeitete. In der ersten Morgenschicht begleitete sie Hila im Stall, am Nachmittag kam sie mit mir zum Hüten. Zunächst gab sie sich noch Mühe, Schritt zu halten. Die nächsten Tage entwickelte sie die Taktik, einfach quer über die Felder zu laufen und damit die Wege zu verkürzen, wenn wir ihr zu schnell wurden.
Am Abend, nach einem vierstündigen, verregneten und kalten Matschspaziergang, freuten wir uns nach getaner Arbeit an dem besagten Tag beide, uns auszuruhen und vorm frühen Schlafengehen warm duschen zu können. Da sie durch Facebook, Instagram, Youtube und Co so abgelenkt war, brauchte es drei Mal Aufwärmen des Wassertanks, bis sie letztendlich diesen letzten Punkt auf der Tagesliste anging. Da sie nach langem Warten über das endlich warme Wasser so entzückt war, wurde das Handtuch vor lauter Freude draußen vergessen. Während sie es holte, plätscherte das Wasser weiter und war bei ihrer Rückkehr - wieder kalt.
Rachel beschloss, diesen Hof vorzeitig zu verlassen. Es sei nicht ihr Lebensziel, den Mist der Tiere wegzuschaufeln, irgendwann einmal eine Herde zu haben, geschweige denn irgendeine Art von Tierprodukten zu konsumieren. „Girls just wanna have fun“ („Mädchen wollen einfach Spaß haben“), das sei ihr im Moment wichtiger.
Mir ging es zuletzt oft so, dass ich Menschen treffe, mit deren Einstellung und Ansichten ich nicht unbedingt übereinstimme, sie aber trotzdem auf eine Art liebenswürdig sind.
Alle Begegnungen hinterlassen einen Eindruck, prägen und zeigen, wie kunterbunt und individuell diese Welt doch ist.

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